Leitlinie Lipödem

S2K-Leitlinie AWMF-Registernummer 037-012, Stand Januar 2024
Die neue Leitlinie umfasst 13 Kapitel, die im Folgenden zusammengefasst und kommentiert werden.

1. Ätiopathogenese, Pathophysiologie, Symptom Schmerz
Das Lipödem ist eine schmerzhafte, disproportionale symmetrische Fettgewebsverteilungsstörung der Extremitäten, die fast ausschließlich bei Frauen auftritt. Es betrifft die Hüften, Oberschenkel, Unterschenkel, Schulterregionen, Oberarme oder Unterarme, wobei Kopf, Hals und Stamm nicht betroffen sind. Das Lipödem ist nicht durch Adipositas bedingt, kann aber mit ihr koinzidieren. Orthostatische Stauungen können auftreten, sind aber unabhängig vom Lipödem. Die Erkrankung betrifft Frauen hauptsächlich, während Männer selten betroffen sind. Es gibt Hinweise auf genetische und hormonelle Einflüsse, und eine X-chromosomale oder autosomal-dominante Vererbung wird diskutiert. Morphologisch zeigen Lipödem Patientinnen spezifische Merkmale wie eine dickere Epidermis, geringe Kompressibilität der Subkutis, hypermobile Gelenke und Mikroaneurysmata der Lymphgefäße. Das Lipödem kann zu einer erhöhten Kapillarfragilität, endothelialen Dysfunktion und verändertem transendothelialem Transport führen. Es wurden verschiedene bildgebende und klinische Untersuchungen durchgeführt, um die Merkmale und Eigenschaften des Lipödems zu bestätigen. Keine der Untersuchungen lieferten signifikante Ergebnisse, die eine objektive Diagnose ermöglichen. Die genauen Ursachen und Mechanismen des Lipödems sind noch nicht vollständig verstanden.
Kommentar: keine wesentliche Änderung zur alten Leitlinie

2. Definition, Klinik, Diagnostik und Differenzialdiagnostik
Das Lipödem ist eine Erkrankung, die durch eine disproportional erhöhte Ansammlung von Fettgewebe in den Beinen und/oder Armen gekennzeichnet ist. Typische Symptome sind Druck- und Berührungsschmerz, Spontanschmerz und Schweregefühl. Eine Diagnose setzt voraus, dass die Fettvermehrung in den Beinen disproportional zum Rumpf besteht und Beschwerden im Zusammenhang damit auftreten. Eine disproportionale Fettgewebsvermehrung ohne entsprechende Beschwerden wird nicht als Lipödem diagnostiziert, sondern als Lipohypertrophie.
Das Lipödem betrifft symmetrisch die Extremitäten und tritt ausschließlich an den Beinen und/oder Armen auf. Es gibt verschiedene morphologische Ausprägungen, die jedoch keine Rückschlüsse auf die Symptomatik zulassen. Es wird empfohlen, eine beschreibende Lokalisation der betroffenen Regionen vorzunehmen, da eine numerische Typisierung aufgrund unterschiedlicher Angaben in den Quellen nicht eindeutig ist. Die folgende Tabelle zeigt die in der Literatur beschriebenen Typisierungen:

 

Die morphologische Ausprägung soll beschreibenden Charakter haben und soll nicht im Sinne einer Schweregradeinteilung verstanden werden.
Die in der Literatur bisher gebräuchliche Stadieneinteilung der Morphologie soll nicht als Maß für die Schwere der Krankheit verwendet werden. Eine Stadieneinteilung für die Beschwerden existiert bisher nicht und das Vorhandensein von "knotigem" Fettgewebe sollte nicht zur Diagnosestellung herangezogen werden. Neben den körperlichen Beschwerden können psychische Faktoren wie Gewichtszunahme, Adipositas und negative Körperakzeptanz eine Rolle spielen.
Bei der Diagnose und Verlaufskontrolle werden biometrische Messwerte wie Körpergewicht, Körpergröße, Taillen- und Hüftumfang empfohlen. Zusätzliche Messungen an den betroffenen Extremitäten können zur Therapieplanung und Verlaufskontrolle hinzugezogen werden. Der Lipohypertrophiequotient nach Herpertz kann zur Beschreibung der disproportionalen Fettverteilung verwendet werden. Die empfohlenen biometrischen Messwerte und ihre Grenzwerte sind in den folgenden Tabellen dargestellt:

Es steht keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz dafür zur Verfügung, dass ein Lipödem mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung von Adipositas assoziiert ist

Kommentar: Wichtigste Änderung ist, dass die Verwendung der bisherigen Stadieneinteilung I – III nicht mehr empfohlen wird, da sie sich nur an der Silhouette und nicht am Beschwerdebild orientiert. Trotzdem sollte die Stadieneinteilung mit entsprechendem Vermerk weiterverwendet werden, da sich die ICD-Codierung und die G-BA-Richtlinie noch daran orientiert.

3. Epidemiologie
Die vorliegende Textauswahl enthält verschiedene Studien und Publikationen zur Epidemiologie des Lipödems, wobei die meisten älter als 10 Jahre sind. Es gibt keine aktuellen Studien, die den aktuellen Diagnosekriterien entsprechen. Die Prävalenz des Lipödems wird in den zitierten Werken unterschiedlich angegeben.
Eine häufig zitierte Studie stammt von Child et al. (2010), die Patientinnen einer lymphologischen Klinik in London untersuchten. Aufgrund der Untersuchung von 330 Familienmitgliedern wurde eine Prävalenz von 1:72.000 vermutet. Diese Zahl bezieht sich jedoch nur auf die ausgewählte Gruppe dieser Klinik.
Eine andere Studie von Herpertz (1997) identifizierte 15% der Patientinnen, die in einer lymphologischen Rehaklinik aufgenommen wurden, als Lipödem-Patientinnen. Marshall und Schwahn-Schreiber (2008a) beschreiben in ihrer Untersuchung zur Sonomorphologie, dass 8-17% der Patientinnen in einer Spezialpraxis als Lipödem-Betroffene identifiziert wurden.

Weitere Studien von Marshall und Schwahn-Schreiber (2008b, 2011) sowie Fife et al. (2010) geben weitere Informationen zur Definition, Symptomen und Stadien des Lipödems, jedoch werden keine weiteren Angaben zur Epidemiologie gemacht.
Rapprich et al. (2015) führten monozentrische Untersuchungen durch und stellten bei 5% der Patientinnen einer Hausarztpraxis die Diagnose Lipödem fest. Forner-Cordero et al. berichteten retrospektiv von einer Prävalenz von 18,8% zwischen 2005 und 2012 in einer Klinik.
Die Studiendaten in tabellarischer Übersicht:

Insgesamt gibt es begrenzte und ältere Daten zur Epidemiologie des Lipödems. Die genauen Prävalenzzahlen variieren je nach Studie und Patientengruppe. Weitere aktuelle und umfangreichere Forschung ist erforderlich, um ein genaueres Bild über die Verbreitung dieser Erkrankung zu erhalten.
Kommentar:  Etwas mehr Studiendaten, aber im wesentlich keine Änderung zur alten Leitlinie.

4. Kompressionstherapie beim Lipödem
Die Kompressionstherapie wird als Teil der Standardbehandlung für das Lipödem empfohlen. Sie zielt darauf ab, Schmerzen und andere subjektive Symptome zu reduzieren. Die Therapie kann mit medizinischen Kompressionsstrümpfen, Kompressionsverbänden und medizinisch adaptiven Kompressionssystemen durchgeführt werden.
Studien haben gezeigt, dass die Kompressionstherapie in Kombination mit Bewegung die Schmerzen und Hämatomneigung bei Lipödem reduzieren kann. Sie kann auch die Ödembildung und -reduktion positiv beeinflussen, wenn das Lipödem mit anderen Ödemen kombiniert ist.
Bei der Auswahl des Kompressionsmaterials sollten das Alter der Patienten, der Zustand der Haut, Muskulatur und des Bindegewebes sowie die Beinform berücksichtigt werden. Eine enge Abstimmung zwischen Patient, Arzt, Therapeut und Versorger ist wichtig, um die beste Passform und Wirksamkeit der Kompressionsversorgung zu gewährleisten.
Je nach anatomischen Verhältnissen und Gewebeformen können flachgestrickte oder rundgestrickte medizinische Kompressionsstrümpfe verwendet werden. Flachgestrickte Strümpfe bieten eine höhere Stiffness und Biegesteifigkeit, während sich rundgestrickte Strümpfe besser an die Beinform anpassen lassen.
Der Kompressionsdruck sollte an die Lokalisation, den klinischen Befund und die Schwere der Beschwerden angepasst werden. Die niedrigste Kompressionsklasse, die eine ausreichende Symptomlinderung ermöglicht, sollte bevorzugt werden, um die Adhärenz mit der Therapie zu verbessern.
Bei der Durchführung der Kompressionstherapie sollten die Regeln der sachgerechten Durchführung beachtet werden, einschließlich der Abpolsterung von druckgefährdeten Bereichen und regelmäßiger Hautpflege, um Nebenwirkungen und Risiken zu vermeiden.
Für weitere Informationen zu Risiken und Nebenwirkungen wird auf die Leitlinie Medizinische Kompressionstherapie der Extremitäten verwiesen.
Kommentar: In der alten Leitlinie diente die Kompression vor allem der Ödemreduktion oder -prävention. In der neuen Leitlinie ist die Zielsetzung die Schmerzreduktion.

5. Lipödem und intermittierende pneumatische Kompression (IPK)
Das Kapitel behandelt die Anwendung der intermittierenden pneumatischen Kompressionstherapie (IPK) beim Lipödem. Es wird festgestellt, dass die Datenlage zu diesem Thema begrenzt ist und sich hauptsächlich auf die Anwendung der IPK an den Beinen bezieht. In der klinischen Praxis wird die IPK als unterstützende Maßnahme bei der Komplexen Physikalischen Entstauungstherapie (KPE) eingesetzt und hat sich als wirksam bei der Reduktion von Ödemen, Schmerzen und Kapillarfragilität erwiesen. Die Geräteeinstellung sollte individuell an das Schmerzempfinden der Patienten angepasst werden, und mehrstufige Ganzbein- oder Hosenmanschetten haben sich für die Behandlung der Beine bewährt. Eine Pilotstudie zur Evaluierung der KPE im Lipödem hat eine Volumenreduktion der Extremität und eine Verbesserung der Schmerzsymptomatik gezeigt. Die zusätzliche Anwendung von IPK brachte keine weiteren Verbesserungen im Volumen, kann jedoch Kosten bei der manuellen Lymphdrainage reduzieren und wird als sicher angesehen. Außerdem konnte eine Verringerung der Kapillarfragilität durch KPE und IPK nachgewiesen werden.
Kommentar: Die IPK wurde neu in die Leitlinie aufgenommen.

6. Medikamentöse Therapie
Die medikamentöse Therapie des Lipödems spielt laut den vorliegenden Empfehlungen eine geringe Rolle. Diuretika sollten nicht zur Behandlung des Lipödems eingesetzt werden, obwohl ihr Einsatz bei Lipödem Patientinnen aus internistischen Gründen möglich ist. Es gibt keine systematisch erhobenen Daten oder konkrete Vorschläge zur medikamentösen Therapie des Lipödems. In einigen Übersichtsarbeiten werden beta-adrenerge Agonisten, Kortikosteroide, Flavonoide und Selen als potenzielle Optionen diskutiert, jedoch ohne detaillierte Indikationsstellung oder Dosierung. Eine Therapie mit Diuretika wird kritisch betrachtet aufgrund möglicher negativer Auswirkungen wie Ödem Symptomatik, Kaliummangel und renaler Salz- und Wasserretention.
Für die Schmerztherapie beim Lipödem kann eine medikamentöse Behandlung in Betracht gezogen werden, insbesondere in der initialen Therapiephase oder bei besonderer Befundverschlechterung. Allerdings wird darauf hingewiesen, dass diese Behandlungsmethode in der Regel wenig wirksam ist. Untersuchungen zu wirksamen medikamentösen Schmerztherapien beim Lipödem existieren nicht, doch als mögliche Ursachen der Schmerzen werden Entzündungen und Sauerstoffmangel vermutet.
Es wird empfohlen, Medikamente, die mit Gewichtszunahme und/oder Ödembildung in Verbindung stehen, unter Berücksichtigung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses zu verschreiben und mögliche Risiken zu vermeiden.
Kommentar: Das Kapitel wurde neu in die Leitlinie aufgenommen, um klarzustellen, dass die medikamentöse Therapie keinen Stellenwert hat und um der ungeeigneten, aber häufig durchgeführten Therapie mit Diuretika entgegenzuwirken.

7. Physiotherapie des Lipödems
Das Kapitel beschäftigt sich mit der Physiotherapie des Lipödems und verschiedenen Therapiemöglichkeiten zur Schmerzreduktion. Es wird darauf hingewiesen, dass die manuelle Lymphdrainage in Kombination mit anderen Therapietechniken, wie zusätzlicher Lymphdrainage und Bewegung, zur Behandlung von Schmerzen eingesetzt werden kann. Die manuelle Lymphdrainage hat nachgewiesene Effekte auf die Schmerztoleranz und -schwelle. Die Anwendung der Vibrationsplatte kann ebenfalls zur Erhöhung der Druckschmerzschwelle beitragen.
Es gibt keine ausreichende Evidenz für die alleinige Anwendung der Manuellen Lymphdrainage beim Lipödem. Studien haben jedoch gezeigt, dass die Kombination von Manueller Lymphdrainage mit anderen Therapietechniken, wie der Komplexen Physikalischen Entstauungstherapie (KPE) und Übungsprogrammen, signifikante Verbesserungen in Bezug auf Schmerzreduktion und Volumenreduktion erzielen kann.
Das aerobe Training, Dehnung und moderates Krafttraining haben ebenfalls positive Auswirkungen auf die Schmerzreduktion beim Lipödem gezeigt. Studien haben gezeigt, dass Bewegung Entzündungen im Fettgewebe reduziert und depressive Episoden mildert. Es wurden auch positive Effekte der Massage-Therapie auf Schlaf und Schmerzreduktion in anderen Schmerzsyndromen wie Fibromyalgie, Verbrennungen und Migräne festgestellt.
Es sollte jedoch beachtet werden, dass es im Zusammenhang mit dem Lipödem keine spezifischen vergleichenden Studien zu diesen Therapiemethoden gibt. Dennoch deuten die vorliegenden Informationen darauf hin, dass eine Kombination von verschiedenen Therapietechniken, einschließlich Manueller Lymphdrainage, Bewegung und Massage, zur Schmerzreduktion und Verbesserung der Lebensqualität bei Lipödem Patientinnen beitragen kann. Weitere Forschung ist erforderlich, um die Effektivität verschiedener Therapien zu bestätigen und neue Ansätze zu entwickeln.
Kommentar: Die physikalische Therapie ist weiterhin eine wichtige Säule in der Lipödem-Therapie. Allerdings wurde die MLD schon deutlich herabgestuft auf eine „kann“-Empfehlung, wenn die Kompression nicht toleriert wird oder nicht ausreichend wirksam ist. Und sie ist eine „sollte“-Empfehlung bei der Verbesserung der Lebensqualität.

8. Psychosoziale Therapie
Das Kapitel behandelt psychosoziale Aspekte in Bezug auf Lipödem und Adipositas. Es wird darauf hingewiesen, dass psychosoziale Faktoren in die Diagnostik und Therapie des Lipödems einbezogen werden sollten. Frauen mit Lipödem leiden oft unter psychischen Störungen wie Depression, Essstörungen und posttraumatischen Symptomen. Studien zeigen, dass Lipödem Patientinnen signifikant höhere physische, emotionale und soziale Beeinträchtigungen im Vergleich zur Normalbevölkerung haben. Psychosoziale Belastungen und Störungen können auch das Schmerzerleben beeinflussen. Adipositas ist häufig mit Lipödem verbunden und kann zu weiteren psychischen Belastungen führen. Es besteht ein Zusammenhang zwischen psychischer Belastung, Schmerzwahrnehmung und chronischem Schmerz. Die Informationen über die Krankheit haben Einfluss auf das Schmerzerleben und das Arzt-Patientinnen-Verhältnis. Psychosoziale Therapieansätze wie Patientenschulung und der Abbau von katastrophisierenden Gedanken können zur Schmerzlinderung beitragen.
Kommentar: Das Kapitel wurde neu in die Leitlinie aufgenommen.

9. Selbstmanagement
Das Kapitel behandelt das Thema Selbstmanagement im Kontext der Gesundheitskompetenz. Empfehlungen betonen die Bedeutung effektiven Selbstmanagements, das die Patientinnen zur aktiven Rolle ermutigt und die Erhöhung der Selbstwirksamkeit fördert. Unterstützung und positive Verstärkung seitens der Behandler spielen eine wichtige Rolle. Es wird auch definiert, dass Selbstmanagement die Fähigkeit Betroffener beinhaltet, ihr eigenes Leben und ihre Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen. Es umfasst Aspekte wie Motivation, Zielsetzung, Planung, Zeitmanagement, Organisation und Feedback. Selbstmanagement wird von ähnlichen Konzepten wie Gesundheitskompetenz und Empowerment abgegrenzt. Die alleinige Informationsvermittlung ohne Einbezug von Selbstmanagement-Strategien ist nicht effektiv. Es wird betont, dass wissenschaftlich fundierte Informationen über die Erkrankung wesentlich sind, um ein erfolgreiches Selbstmanagement aufzubauen, während Fehlinformationen zu einer Verschlechterung des Erkrankungsverlaufs führen können. Problemlösestrategien und die Erhöhung der Selbstwirksamkeit spielen eine zentrale Rolle bei Selbstmanagement-Ansätzen. Sowohl Behandler als auch Patientinnen können Maßnahmen ergreifen, um Selbstmanagement zu fördern. Es wird darauf hingewiesen, dass die Motivation und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten entscheidend für Verhaltensänderungen im Sinne des Selbstmanagements sind. Selbstmanagement-Programme können bei chronischen Erkrankungen zur Verbesserung des Gesundheitszustands und der Lebensqualität beitragen. Es wird darauf hingewiesen, dass spezifische Angebote für die Erkrankung Lipödem noch begrenzt sind.
Kommentar: Das Kapitel wurde neu aufgenommen. Eine wichtige Rolle spielen hier auch die Selbsthilfe-Gruppen.

10. Psychotherapie
Psychische Erkrankungen + Lipödem 
Am 22.01.2024 wurde die neue Leitlinie Lipödem veröffentlicht. Im Rahmen dessen gibt es auch eine Aktualisierung und Erneuerung im Bereich der Psychosozialen Therapie.[1]

[1] Quelle: https://register.awmf.org/assets/guidelines/037-012l_S2k_Lipoedem_2024-01.pdf S. 57 ff

 

Hinsichtlich der Säulen der Behandlung des Lipödems soll daher nun auch der psychosoziale Bereich in den Fokus der Aufmerksamkeit und in eine umfassende Behandlung integriert werden.
Die neue Leitlinie besagt, dass psychische Erkrankungen und die Symptome einen Einfluss auf die Lebensqualität von Lipödempatienten:innen hat. Hierzu sollen zukünftig auch entsprechende psychische Diagnosen (z.B. Depressions – und Angsterkrankungen, Essstörungen o.ä.) abgefragt bzw. ggfls. weitere Behandlungsoptionen eingeleitet werden.
Deutlich wird jedoch auch, dass das Lipödem nicht die Ursache psychischer Beschwerden sind, sondern vielmehr diese sich dadurch verschlechtern können. (vgl. Czerwinska et. al. 2021; Erbacher and Bertsch 2020)

Psychische Belastungen und chronischer Schmerz:
Bei zahlreichen „Schmerzerkrankungen“ ist ein Zusammenhang zwischen psychischer Belastung und Schmerzwahrnehmung bereits gut beschrieben (Baerwald et al. 2019; Bischoff et al. 2016; Linsmayer et al. 2019; Tegethoff et al. 2015; Viana et al. 2018; AWMF – S – 2 Leitlinie S. 59 ff).
Bei lipödemerkrankten Frauen spielen nicht selten körperliche und psychische Faktoren eine bedeutsame Rolle. Daher ist es um so bedeutsamer, in der Behandlung des Lipödems auch entsprechende Faktoren psychischer Belastungen zu analysieren und in die Behandlung zu integrieren.

Hilfestellung für die Praxis: Psychosoziale Therapieansätze
Natürlich stellen sich viele Behandler:innen aber auch Betroffene nun die Frage, was Sie tun können, damit es zu einer Schmerzlinderung kommen kann.
Hierzu gibt es folgende Hinweise in der Leitlinie:
-              Dekatastrophisierung
-              Abbau der Angst vor Schmerzen und Bewegung
-              Vermittlung von Kontrolle und Sicherheit in Bezug auf die Schmerzen und deren Verlauf
-              Behandlung von (schmerzassoziierten) Depressionen
-              Fokussierung lebensqualitäterhöhender Inhalte (weg von dem Fokus des Schmerzes)
-              Erwartung einer Schmerzlinderung

Hierzu gibt es natürlich unterschiedliche Hilfestellungen und Empfehlungen werden u.a. für die Kognitive Verhaltenstherapie, aber auch Acceptance and Committment Therapie (CBT) sowie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) ausgesprochen.

Die Leitlinie empfiehlt entsprechende Ansätze in die Behandlung beim Lipödem zu integrieren. Doch in der Praxis ist das derzeit noch nicht so einfach zu finden und muss erst noch auf – und ausgebaut werden.
Nun aber einmal ganz konkret:

Wo finde ich Hilfe, wenn ich unter einer psychischen Erkrankung leide?
Über das derzeitige kassenärztliche System stehen Patienten:Innen derzeit drei unterschiedliche psychotherapeutische Verfahren zur Verfügung, die von der Krankenkasse bezahlt werden. Dazu zählen folgende Verfahren:

  • Verhaltenstherapie
  • Tiefenfundierte Therapie
  • Neu seit dem 1. Juli 2020 auch die systemische Therapie.

In einer Verhaltenstherapie werden Ansätze der CBT häufiger zu finden zu sein. EMDR kann in allen Verfahren eingesetzt werden, sofern der Psychotherapeut/ die Psychotherapeutin entsprechend ausgebildet ist.
(!) Ehrlicherweise müssen wir jedoch sagen, dass aktuelle viele Patienten:innen, die an einer psychischen Erkrankung leiden und eine Psychotherapie absolvieren möchten, 5 Monate und länger auf einen entsprechenden Psychotherapieplatz warten. Das soll jedoch nicht entmutigen, sondern ganz im Gegenteil:

Versicherte können sich direkt an Therapeutinnen oder Therapeuten oder an die Terminservicestelle (TSS) der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung wenden, die unter der bundesweit einheitlichen Telefonnummer 116117 täglich rund um die Uhr telefonisch erreichbar sein müssen sowie zusätzlich auch digital über die Internetseite www.116117.de oder über die App 116117.app verfügbar sind und nach einem sogenannten Erstgespräch fragen.  [1]
Ob sich dann eine Psychotherapie direkt anschließen kann, ist jedoch ungewiss.
Manchmal können auch die eigenen Krankenkassen Auskunft darüber geben, ob sie einen freien Therapieplatz finden/ zur Verfügung stellen können. Meistens haben Krankenkassen auch entsprechende Informationen auf ihrer Website.
Informationen zu den unterschiedlichen Psychotherapieverfahren finden Sie auf der Seite des Gemeinsamen Bundesausschusses:
https://www.g-ba.de/themen/psychotherapie/

11. Ernährung und Gewichtsmanagement
Das Kapitel behandelt Empfehlungen und Erkenntnisse bezüglich der Ernährung und dem Gewichtsmanagement bei Lipödem. Hier sind die wichtigsten Punkte der Zusammenfassung:
- Die Aufklärung über die negativen Auswirkungen von Adipositas auf das Lipödem und die Bedeutung einer gesunden Ernährung und eines aktiven Lebensstils wird empfohlen.
- Patientinnen mit Lipödem und Übergewicht sollen darüber informiert werden, dass Gewichtsreduktion auch das Beinvolumen reduzieren kann.
- Ernährung und Gewichtsmanagement sind wichtig, um Mobilität, Funktionalität und das Fortschreiten der Krankheit zu beeinflussen.
- Die Therapie von Übergewicht und Adipositas sollte in das Gesamtkonzept der Lipödem Therapie einbezogen werden.
- Eine Gewichtsreduktion bei Adipositas erfordert eine Kombination aus Ernährung, Bewegung und möglicherweise verhaltenstherapeutischen Maßnahmen.
- Adäquate Proteinversorgung ist wichtig, um den Verlust von Muskelmasse während der Gewichtsreduktion zu minimieren.
- Kurzfristige Diäten sollten vermieden werden, stattdessen wird eine langfristige Umstellung auf eine individuell angepasste, gesunde Ernährungsweise empfohlen.
- Die Aufklärung über das Krankheitsbild und die Bedeutung eines gesunden Lebensstils soll frühzeitig erfolgen, um frustrane Diätversuche und Essstörungen zu vermeiden.
- Die Ernährungsgewohnheiten können den Blutzucker- und Insulinspiegel sowie lipogene und inflammatorische Prozesse beeinflussen.
Das Kapitel behandelt außerdem spezielle Ernährungsformen für Menschen mit Lipödem. Es werden verschiedene Ernährungsansätze diskutiert, die darauf abzielen, entzündliche Prozesse zu reduzieren und Symptome zu lindern.
-          Eine mediterrane Ernährung mit antiinflammatorischen Eigenschaften wird empfohlen, ebenso wie eine ketogene Ernährung, die sowohl gewichtsreduzierende als auch entzündungshemmende Effekte haben kann.
-          Es gibt Fallberichte und Studien, die positive Ergebnisse durch diese Ernährungsweisen für Lipödem Patienten zeigen, wie eine Verringerung des Fettgewebes, Verbesserungen der Lebensqualität, Schmerzreduktion und eine Steigerung der körperlichen Fähigkeiten.
-          Die ketogene Ernährung wird als vielversprechende Therapieform beim Lipödem angesehen und soll weiter erforscht werden.
-          Studien weisen auch darauf hin, dass eine ketogene Ernährung die Inflammation effektiver bekämpfen oder vermeiden kann.
-          Weitere Untersuchungen zeigen positive Effekte einer Low-Carb-High-Fat-Ernährung auf die Körperzusammensetzung und Lebensqualität von Lipödem Patientinnen.
-          Es gibt auch Hinweise darauf, dass eine ketogene Ernährung Schmerzen reduzieren kann.
Allerdings ist die Anzahl der Studien noch begrenzt, und weitere Forschung ist erforderlich, um die Effektivität und Sicherheit dieser Ernährungsansätze bei Lipödem zu bestätigen.
Kommentar: Das Kapitel wurde neu aufgenommen, da es dazu mittlerweile eine Reihe von neueren Studien gibt.

12. Bariatrische Therapie
Das Kapitel beschäftigt sich mit dem Stellenwert der bariatrischen Therapie bei der Behandlung von Patientinnen mit Lipödem. Die Empfehlungen legen nahe, dass die Entscheidung für einen bariatrischen Eingriff gemäß der S3-Leitlinie "Chirurgische Therapie der Adipositas und metabolischen Erkrankungen" getroffen werden sollte. Dabei sollte die Waist-Height-Ratio berücksichtigt werden, da der alleinige Body-Mass-Index (BMI) bei deutlicher Disproportion möglicherweise keine aussagekräftigen Ergebnisse liefert.
Bei Patientinnen mit Lipödem und einem BMI von ≥40 kg/m2 sollte eine bariatrische Operation zur Gewichtsabnahme und Verminderung des Beinvolumens in Betracht gezogen werden. Bei einem BMI von ≥35 kg/m2 bis <40 kg/m2 und mindestens einer weiteren Adipositas-assoziierten Erkrankung kann ebenfalls ein bariatrischer Eingriff zur Gewichtsreduktion und Beinvolumenreduktion erwogen werden. Es sollte dabei auch die WHtR herangezogen werden.
Die verfügbare Datenlage zur bariatrischen Therapie beim Lipödem ist begrenzt. Es gibt jedoch Metaanalysen, die einen signifikanten und anhaltenden Vorteil der bariatrischen Chirurgie im Vergleich zur konservativen Therapie hinsichtlich Gewichtsverlust, Remission von Typ-2-Diabetes und Verbesserung der Lebensqualität zeigen. Nebenwirkungen wie Eisenmangelanämie und Reoperationen wurden ebenfalls dokumentiert.
Langzeitdaten aus randomisierten Studien zur bariatrischen Chirurgie beim Lipödem fehlen, aber Langzeitdaten aus einer großen prospektiven Kohortenstudie deuten auf einen fortbestehenden Vorteil der bariatrischen Chirurgie hin. Es wird auch darauf hingewiesen, dass bei der Bewertung eines bariatrischen Eingriffs die disproportionale Verteilung bei Patientinnen mit Lipödem und das möglicherweise verringerte metabolische Risiko berücksichtigt werden sollten.
Es gibt keine randomisiert kontrollierten Studien zur bariatrischen Chirurgie bei Patientinnen mit Lipödem, aber eine retrospektive Kohortenstudie zeigt, dass Patientinnen mit Lipödem nach bariatrischer Chirurgie einen ähnlichen Gewichtsverlust wie übergewichtige Kontrollen erreichen können. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass einige Fallberichte auf Limitationen der bariatrischen Chirurgie mit gleichbleibendem Beinvolumen trotz Gewichtsverlust hinweisen.
Die vorliegende Evidenz wird in verschiedenen Leitlinien zusammengefasst und bewertet, wobei ein Body-Mass-Index von 40 kg/m2 als Indikation für eine bariatrische Chirurgie unabhängig von Begleiterkrankungen empfohlen wird. Bei einem BMI von ≥35 kg/m2 bis <40 kg/m2 wird eine Indikation zur bariatrischen Chirurgie in Anwesenheit von Adipositas-assoziierter Begleiterkrankungen gesehen.
Es gibt begrenzte Daten zur Symptomatik des Lipödems nach bariatrischer Chirurgie, die auf eine Schmerzpersistenz trotz guter Gewichtsabnahme hinweisen.
Es liegen keine Daten zur Art der bariatrischen Operation vor, sodass keine Empfehlung in Bezug darauf gegeben werden kann.
Kommentar: Das Kapitel wurde neu in die Leitlinie aufgenommen, da viele Betroffene auch unter einer Adipositas leiden und hier ein Leitlinien-gerechte Empfehlung bisher fehlte. Es fehlen Empfehlung zur Reduktion überschüssiger Haut. Dazu sei aber auf die Leitlinie zur Adipositas verwiesen.

13. Operative Therapie des Lipödems
Die operative Therapie des Lipödems besteht hauptsächlich aus der Liposuktion, einer Fettabsaugung, die zur nachhaltigen Reduktion des Unterhautfettgewebes eingesetzt wird. Die Leitlinien empfehlen die Liposuktion bei Lipödemen an den Beinen und Armen, wenn konservative Therapien keine Besserung bringen oder Komplikationen wie Schmerzen, Mobilitätseinschränkungen oder Folgeerkrankungen auftreten. Die Indikation soll sich nicht mehr an der herkömmlichen   Stadieneinteilung orientieren, sondern an den Symptomen, vor allem an den Schmerzen, da es keine Korrelation zwischen der Schwere der Symptomatik und der bisherigen Stadieneinteilung gibt. Die Technik sollte gewebe- und lymphgefäßschonend sein und kann unter örtlicher Betäubung mit Tumeszenz-Lokalanästhesie oder Vollnarkose durchgeführt werden. Die empfohlenen Methoden sind  die Liposuktion mit vibrierenden Kanülen (PAL = power assisted liposuction) oder die Wasserstrahl-Methode (WAL = waterjet assisted liposuction). Eine präoperative Entstauungstherapie wird nur bei klinischem Ödem Nachweis empfohlen. Nach der Liposuktion sollte eine physikalische Entstauungstherapie durchgeführt werden, und die Patientinnen sollten weiterhin konservativ behandelt werden. Die Liposuktion kann Schmerzen lindern, die Lebensqualität verbessern und andere Beschwerden wie Hautschäden und Bewegungseinschränkungen reduzieren. Die Erfolgsquote der Liposuktion ist hoch, während die Komplikationsrate relativ niedrig ist.
Kommentar: Keine wesentliche Änderung gegenüber der alten Leitlinie. Wichtig ist die Betonung darauf, dass die Liposuktion für alle Stadien empfohlen wird und dass die Indikation außer in der Verbesserung  der Mobilität vor allem in der Beschwerdereduktion liegt. Empfehlungen zur Technik und Vorgehensweise wurden spezifiziert. Neu aufgenommen wurde auch die Bewertung der Risiken nach den Studiendaten.

[1] Quelle: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/p/psychotherapeutische-sprechstunde

 

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